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Chinesische Medizin

Man erzählt sich, dass die Ärzte im alten China nur bezahlt wurden, wenn ihre Patienten gesund waren. Für jeden kranken Patienten hängte der Therapeut eine rote Lampe in sein Fenster, so dass jedermann sehen konnte, ob er ein guter Arzt war.

Wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, aber wir wissen, dass die Chinesische Medizin in der Tat einen präventiven Ansatz entwickelt hat: der Arzt beriet über Ernährung, Bewegung und Lebensführung und erst wenn es trotz aller Bemühungen zu einer Erkrankung gekommen war, begann er mit dem zu arbeiten, was wir heute im Allgemeinen als Chinesische Medizin kennen: mit der Akupunktur und der Kräutertherapie. Die Chinesische Medizin ist also schon in ihren Wurzeln eine zutiefst ganzheitliche Therapie.

Heute hören wir die tollsten Geschichten: von Operationen ohne Narkose, bei denen der Patient nur mit Akupunkturnadeln betäubt wurde oder von chronischen Schmerzen, die nach dem Einstechen der Nadeln verschwunden sind und dergleichen mehr. So faszinierend diese Geschichten auch sind, berichten sie doch nicht über das, was die Chinesische Medizin für uns Europäer heute so wertvoll macht.


Grenzen und Möglichkeiten

Die westliche Medizin hat – aus der Anatomie und Chirurgie heraus – einen reparativen Ansatz entwickelt. Auf diesem Gebiet haben Generationen von Medizinern ungeheures Wissen zusammengetragen, dessen Bedeutung unbestreitbar ist. Dennoch hat die westliche Medizin ihre methodischen Begrenzungen.

•   Krankheiten, die nicht mit einer anatomischen Veränderung in Verbindung gebracht werden können, also     funktionelle Störungen, entziehen sich weitgehend der westlichen Diagnostik. Sie werden entsprechend als     „psychosomatisch“ eingestuft und die westliche Medizin tut sich – trotz oft erheblicher körperlicher     Beschwerden – mit der Behandlung schwer.

•   Es fehlt das Verständnis für Symptome, die im Vorfeld einer Erkrankung als Warnung des Organismus     auftreten.

Die Chinesische Medizin ist eine großartige und sinnvolle Ergänzung zu unserer westlichen Medizin, denn sie hat genau hier ihre Stärken: in der Behandlung funktioneller Störungen und in der Behandlung von Symptomen, die schulmedizinisch (noch) nicht oder nur symptomatisch behandelbar sind. In der Chinesischen Medizin geht es nicht nur darum, ein Symptom verschwinden zu lassen, sondern auch darum, die zugrunde liegende Störung zu erkennen und zu behandeln und damit einen echten Heilungsprozess in Gang zu setzen.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts – bis zum Einzug der westlichen Medizin in China – gab es neben der Chinesischen Medizin keine andere Heilkunst. Entsprechend gibt es keine Erkrankung, für die es in der Chinesischen Medizin kein Behandlungskonzept gibt. Doch niemand wird die großartigen Errungenschaften der westlichen Medizin wie Penicillin oder Chirurgie ignorieren oder missen wollen. Zum Glück können wir einen eiternden Blinddarm heute entfernen. Zum Glück können wir bei einer akuten Entzündung ein Antibiotikum verordnen. Und doch muss nicht jede Blasenentzündung gleich mit einem Antibiotikum behandelt werden.

Über mehr als zwei Jahrtausende haben Ärzte der Chinesischen Medizin das Immunsystem des Menschen beobachtet. Sie haben Rezepturen und Behandlungsstrategien entwickelt, die sowohl akute Symptome, zum Beispiel Brennen beim Wasserlassen, als auch das zugrundeliegende Ungleichgewicht behandeln. Nimmt man ein Antibiotikum, so wird die Darmflora und damit das Immunsystem geschwächt. Nicht selten klagen vor allem Patientinnen über immer wiederkehrende Infektionen. Die Chinesische Medizin bekämpft das Problem (das Brennen) und sorgt gleichzeitig dafür, dass das Immunsystem gestärkt wird. Die Infekte werden seltener oder bleiben ganz aus. Statt der Unterdrückung von Symptomen wird ein Prozess der Heilung in Gang gesetzt. Körper und Geist (Psyche) werden als Einheit gesehen. Die Behandlung umfasst daher immer physische und psychische Aspekte gleichermaßen.


TCM oder Chinesische Medizin?

Im Westen ist die Chinesische Medizin vor allem unter dem Kürzel TCM bekannt. Die TCM, die Traditionelle Chinesische Medizin, ist eine Schöpfung des kommunistischen China unter Mao Zedong. Nach dem Einzug der westlichen Medizin in China, etwa um 1840, geriet die Chinesische Medizin vor allem in den großen Städten in Vergessenheit. Erst als 1949 Mao an die Macht kam und es vor allem in der armen Landbevölkerung keine ausreichende schulmedizinische Versorgung gab, sollte der „Schatz“ der Chinesischen Medizin gehoben werden. Mao ließ die Chinesische Medizin, die eine Vielfalt unterschiedlichster Traditionen umfasste, systematisieren und neu unterrichten. Einerseits vereinfacht die neue Systematik gerade uns westlichen Lernenden das Erfassen und Begreifen dieser komplexen Medizin, andererseits fielen diesem Prozess zahlreiche Ansätze zum Opfer, die dem kommunistischen Denk- und Lebensmodell widersprachen. Die Entfaltung des Individuums wurde der Bedeutung des Kollektivs untergeordnet. Ich spreche daher in meiner Praxis explizit von Chinesischer Medizin und nicht von TCM, um deutlich zu machen, dass ich mich in meiner Arbeit auch auf die medizinischen Traditionen beziehe, die der kommunistischen Partei zum Opfer gefallen sind.

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